Die Vorbereitung
Bäcker-Gesellin auf Wanderschaft
War sie bis zum Beginn der Industrialisierung Pflicht-Teil der handwerklichen Ausbildung, ist die Wanderschaft in den letzten 100 Jahre schwer aus der Mode gekommen. Geschätzte 400 bis 600 Frauen und Männer sind aktuell auf Walz. Eine von ihnen ist Helen. Hier schreibt sie über ihre Erlebnisse der entbehrungsreichen Tour.
Schon zum Beginn meiner Ausbildung wusste ich, dass ich nach dem Gesellenbrief noch einmal richtig auf Reisen gehen möchte, immer auch verbunden mit dem Gedanken, dabei zu arbeiten, um so die Reise zu finanzieren und etwas dazuzulernen. Die Idee hatte ich aus meinem ökologischen Jahr auf einem französischen Gemüsehof mitgebracht, wo es immer viel Austausch mit (Welt-)Reisenden über Arbeitsvermittlungs-Portale wie wwoof und helpx gab. Die Freiwilligen kamen für einige Zeit zu uns auf den Hof, um gegen Kost und Logis zu helfen.
Obwohl ich damals schon sah, dass Reisen auch sehr gut ohne oder mit wenig Geld funktioniert, kamen immer wieder Zweifel, ob das auch wirklich machbar sei. Allein schon die Krankenversicherung kostet rund 160,– Euro monatlich.
Im Dezember 2017 erfuhr ich in Olpe im Rahmen meines letzten Ausbildungs-Lehrgangs, dass es die Wanderschaft auch für Bäcker gibt. Sie haben uns dort für weitere Fragen auf die Seite baeckerwalz.de verwiesen. Wie ich mittlerweile weiß, werden dort gestellte Kontaktanfragen allerdings über mehrere Personen weitergeleitet – meine ist damals wohl irgendwo hängen geblieben, sodass ich im Internet weiter suchte und über Umwege E-Mail und Telefonnummer der gereisten Bäckerin Sarah Schumann erhielt, die schon seit einigen Jahren wieder zu Hause ist.
Sie nahm sich viel Zeit, um mir viele Fragen zu beantworten, gab mir Termine von Wandergesellentreffen, wo man als Interessent, wie es heißt, zureisen und reisende Gesellen kennenlernen kann. So machte ich mich im Mai 2019 auf den Weg ins Wendland, um dort am Treffen des Freien Begegnungsschachtes teilzunehmen.
Solche Treffen sind meist auch offen für Reisende anderer Vereinigungen. Und so waren auch Freireisende dort, die keiner Vereinigung angehören. Sie warben für eine solidarische Baustelle im Sommer in Halle an der Saale und sagten mir, dass auch Interessenten wie ich herzlich willkommen seien.
Erste Herausforderung war das Finden eines Exportgesellen. Diese Wahl ist wahrscheinlich die wichtigste. Die Losgehzeit, die man gemeinsam verbingt, beträgt im Durchschnitt drei Monate. Das ist eine Menge Zeit, um sich auf die Nerven zu gehen. Während der ersten Monate führt der Exportgeselle seinen Jungreisenden in die Traditionen und Rituale ein. Er ist Freund, Mutmacher, Partner und strenger Lehrer zugleich.
Es ist wichtig, wie man sich als Wandergeselle in der Öffentlichkeit, aber auch untereinander verhält. Die meisten Regeln waren früher selbstverständlich für jedermann, heute gelten sie oft als nicht mehr wichtig. Zum Beispiel, dass man den Hut beim Essen, in der Küche und in der Kirche abnimmt oder dass man sein Jacket als Zeichen des Friedens schließt, wenn man zu fremden Menschen geht. Früher konnte man seinen Degen nicht ziehen wenn das Jacket geschlossen war.
Wandergesellen haben kaum Geld, sie gehen zudem die Verpflichtung ein, keines zum Reisen auszugeben. Entsprechend sind wir immer wieder auf die Hilfe der Menschen angewiesen, beim Trampen zum Beispiel. So trägt jeder einzelne von uns eine Verantwortung dafür, die Wandergesellen in der Gesellschaft vernünftig zu repräsentieren, um kein schlechtes Licht auf uns fallen zu lassen. Wir brauchen das Vertrauen unserer Mitmenschen.
Es dauert eine Weile, bis man alle Regeln verinnerlicht hat und sich automatisch daran hält. Losgehzeit ist die Trainingsphase. Einige Dinge werden in Form von Spielen verinnerlicht. Quasi die moderne Variante der antiautoritären Erziehung, in der die Fortschritte belohnt werden. Oder es wird zur traditionellen Methode mit dem Kerbholz gegriffen. Der Jungreisende bekommt ein Stück Holz, in das bei jedem Regelverstoß eine Kerbe eingeritzt wird. Am Ende der ersten Woche wird dann je nach Anzahl der Kerben eine Auslöse gefordert. Dann muss man zum Beispiel einen Kuchen backen oder eine Kiste Bier spendieren. Bei vielen Kerben ist mehr Kreativität gefragt.
Auf der Suche nach so einem Exportgesellen fuhr ich im Juni nach meiner Gesellenprüfung nach Halle. Ich verbrachte vier schöne Wochen auf der Sommerbaustelle, auf der sich jedes Jahr mehrere Wandergesellen begegnen und gemeinsam ihre Arbeitszeit einem solidarischen Projekt schenken. Projekt und Ort wechseln jedes Jahr.
Ich durfte in der Küche mithelfen, die von dem reisenden Koch Paul und dem reisenden Bäcker und Konditor Falk organisiert wurde. Die Besetzung des Küchenteams wechselte häufig, je nachdem wer gerade da war. Und zu Essen gab es hauptsächlich das, was wir aus den Spenden der Tafel kochten.
Gegen Ende meiner Zeit dort fragte ich Paul, den Koch, ob er mich abholen würde. Wir einigten uns auf den 19. November als Losgehdatum. Ich hatte meinen Exportgesellen gefunden. Die Abschlussparty mit etwa 250 Leuten bereiteten wir – neben der täglichen Versorgung – eine Woche lang vor. Die Bäcker nachts, die Köche tagsüber. Es war eine fantastische Feier. Danach machte ich mich mit einer Packliste, vielen neuen Eindrücken und großer Vorfreude auf den Weg zurück nach Hause ins Münsterland.
Ganz oben auf der Liste stand die Kluft. Mit der ist es wie beim Auto: Man kann einen Gebrauchtwagen fahren oder sich einen Porsche leisten. Die meisten Wandergesellen gehen mit einer günstigen Kluft los. Wenn man dann weiß, wie sie aussehen soll, welche Taschen nötig sind, geht man zu einem Kluftschneider, der eine Kluft nach individuellen Wünschen und nach Maß anfertigt.
Das kostet dann schon mal 1.500,– bis 2.500,– Euro. Dabei ist aber immer zu bedenken, dass wir während der Wanderschaft ansonsten so gut wie kein Geld mehr für Kleidung ausgeben – außer für Unterwäsche und neue Stauden.
Für das Losgehen gibt es manchmal die Möglichkeit, eine abgelegte Kluft von einem anderen Gesellen zu tragen. Das kostet im besten Fall einen Kuchen oder eine Kiste Bier. Oder man geht, so wie ich, zur Maßschneiderei eines Großproduzenten. Die können auch Taschen und Extras einnähen und Pepita verwenden, also das für Lebensmittelgewerke klassische Stoffmuster.
Denn jedes Gewerk hat seine eigene Kluftfarbe, die kann man nicht einfach so von der Stange kaufen. Mein Exportgeselle Paul und zwei weitere Wandergesellen trafen sich mit mir vor Ort, gaben mir Tipps, worauf ich achten sollte und was praktisch ist.
Die meisten Leute mit einer Standardfigur haben keine Probleme mit so einer Kluft, selbst wenn sie nicht perfekt sitzt. Dafür kostet sie auch nur um 700,– Euro. Bei der Bequemlichkeit sollte man aber keine Abstriche machen, denn wir haben die Kluft jeden Tag an. Das ist gewissermaßen unser Zuhause, in dem wir auch alle wichtigen Sachen tragen. Ausreichend Taschen sind daher genauso wichtig.
Die Wartezeiten bei den Schneidern sind sehr unterschiedlich, je nach Saison und Zahl der Gesellen, die sich gerade auf Wanderschaft machen. Ich habe nach dem Maßnehmen etwa zwei Monate gewartet. Bei einem spezialisierten Kluftschneider kann es auch ein halbes Jahr dauern.
Ich habe mich für die Wanderschaft den Vereinigten Löwenbrüdern und -schwestern Europas (V.L.E.) angeschlossen. Im April 2016 gegründet, ist es eine der jüngsten Wandergesellen-Vereinigungen. Diese Vereinigungen heißen traditionell „Schacht“ und sind für uns Wandergesellen wichtige Einrichtungen. Einige betreiben zum Beispiel Unterkünfte. Unser Schacht unterstützt die Wandergesellen aus allen Bereichen der Lebensmittel produzierenden und verarbeitenden Gewerke vor allem durch Vernetzung. So kann man sich während der Wanderschaft und auch darüber hinaus austauschen.
Einmal im Jahr – am 3. Oktober – findet ein verpflichtendes Treffen statt. Darüber hinaus besagen die Regeln der Vereinigten Löwenbrüder und -schwestern, dass wir von den anderthalb Jahren Mindest-Arbeitszeit während der Walz ein Jahr im Lebensmittelhandwerk arbeiten müssen.
Gerade als Jungreisender hat man viel zu lernen, wird hin und wieder mal streng behandelt. Bei Paul und mir hat es ganz gut funktioniert. So gut, dass wir nach zwei Monaten ein Paar geworden sind. Wir hielten es dann für besser, getrennt zu wandern. Mit Falk, dem Bäcker und Konditor, den ich zusammen mit Paul in Halle kennengelernt hatte, habe ich weitere zwei Monate Losgehzeit verbracht. Hin und wieder kommt es vor, dass sich Exportgeselle und Jungreisender vorzeitig trennen, weil es doch eine ungünstige Kombination war. Also Augen auf bei der Exportwahl.
Im November war es dann soweit. Ich war bereit, mich zu verabschieden. Immerhin für mindestens drei Jahre und einen Tag. Und das mit wenig Kontaktmöglichkeit. Denn wir Wandergesellen reisen ohne Mobiltelefon. Wenn wir einen Computer finden, lassen sich E-Mail oder soziale Medien nutzen. Aber die meiste Zeit verbringt man offline. Und Wanderschaft bedeutet, fremd zu sein. Man akzeptiert eine Bannmeile von 50 Kilometern. Näher darf man der Heimat nicht kommen. Trotz einer gewissen Traurigkeit brachte dieser Tag einige der schönsten Stunden meines Lebens.
Ein geeignetes Ortsschild zum Abschiednehmen hatte ich gemeinsam mit Paul bereits ausgesucht. Er besuchte mich mehrere Male, um meine Familie kennenzulernen, Fragen zu beantworten und mich auf das Losgehen vorzubereiten, indem er mir zeigte, wie man das traditionelle Gepäck packt.
Mit viel Unterstützung von meinen Eltern und der ganzen Familie organisierten wir eine große Abschiedsparty, zu der ich Freunde, Nachbarn, Familie und ehemalige Mitbewohner einlud. Es war ein superschönes Fest, auch wenn ich unbegründeter Weise total aufgeregt war. Am Sonntag hieß es dann Aufräumen, ein letztes Mal Oma besuchen und endgültig alle Sachen zusammenpacken, denn am Montagmorgen sollte es losgehen.
Gegen 11 Uhr waren wir mit dem Bürgermeister verabredet, der mir und allen anderen rund 30 Gesellen den Stempel meiner Heimatgemeinde Telgte in das Wanderbuch drückte. Anschließend ging es zum Ortsschild, wo schon Freunde und Familie auf uns warteten. Hier sollte ich nun ein 90 Zentimeter tiefes Loch graben, um einige Erinnerungen und gute Wünsche von Freunden und Familie sowie eine Flasche Willkommensschnaps für die Heimkehr zu vergraben. 90 Zentimeter, damit der Frost die Flaschen nicht zerstören kann.
Das Graben dauerte einige Stunden, denn ich hatte nur einen Löffel zur Verfügung und musste das Loch später auch noch mit Hilfe von Freunden und Familie gegen die anderen Gesellen verteidigen, die so meine Entschlossenheit testeten, auch wirklich loszuwollen.
Dann ging es ans Abschiednehmen. Mithilfe meiner Familie schaffte ich es gerade so hoch aufs Ortsschild. In der neuen, noch steifen und außerdem vollgepackten Hose konnte ich meine Beine kaum 15 Zentimeter über den Boden heben. Als ich oben auf dem Ortsschild saß, gab es noch ein Feuerwerk, das meine Brüder organisiert hatten. Dann durfte ich mich endgültig verabschieden und mich auf die „fremde“ Seite des Ortsschildes in die Arme meiner neuen Kameraden fallen lassen. Die drehten mich um und gaben Acht, dass ich nicht mehr zurückblickte.